Paradis perdu

Es war ein sonniger Tag. Nein, war es nicht. Es war ein bisschen wärmer als sonst und ein paar Stunden hat die Sonne geschienen. Später wurde es kalt und vielleicht hat es sogar ein bisschen geregnet.
Aber wenn man über den ersten Tag schreibt, dann war es immer ein sonniger Tag. Weil alles Gute mit der Sonne beginnt und im Licht steht. Nun kann man sch streiten, ob dieser Tag ein Gutes hatte. Nun weiß man nicht, was gut daran sein sollte. Aber ist man denn sicher, dass nicht alles so, genau so und vielleicht auch sonnig sein sollte?

Ich sehe Löwen, die um Widder kreisen und meinen Namen als Kettchen um den Hals tragen. Dann sehe ich Skorpione, die sich selbst in den Schwanz beißen und einen Steinbock, der sich vor Lachen ausschüttet.
Ich hab auch eine Hexe gesehen, die leise lächelnd raunte, das ist dein Schicksal, du kannst dich nicht wehren. Und die Hexe sprach nicht italienisch.
Als ich in die Kirche ging, hab ich einen Chor von Engeln gehört. Da zündete ich eine Kerze an, damit sie nicht aufhören. Ich musste gehen und ihr Singen erstarb.
Vor der Kirche saß ein Löwe und bettelte um einen Euro.

Wir hatten also beschlossen, ein bisschen in Kultur zu machen. Große Kultur, moderne Kultur. Alles wird gut. Vielleicht treffen wir jemanden, mit dem man Französisch reden kann. Taten wir. Das war es auch schon. Das war alles. Nicht mehr. Und doch war es der Anfang. Düstere Musik, die Ankündigung des kulturpolitischen Absturzes, ein paar verhaspelte Worte und die raue Erkenntnis, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist.

An meinem Bett steht das Corpus Christi. Von Vouet. Es fehlt ihm ein Stück oben rechts, dort, wo der Kopf in die Stirn übergeht. Das war einmal anders.
Ich sage Bonjour und gebe ihm seine Bises. Er dankt und sagt, das sei übertrieben. Dazu kommt ein Riese, der singt von Verrat. Ich habe gelacht, aber lustig war das eigentlich nicht. Was will der Riese? Warum singt er nicht von Glück und Dummheit? Warum fließt der Rhein auch in Frankreichs Nordwesten?
Mutig stelle ich mich dem Kampf, hab eine Lanze in der Hand und ein Schwert, das jeden tötet, der nicht ein Lindenblatt auf der Schulter trägt.
Mir rutschte die Hand aus. Siegfried hat laut gelacht und der Riese hat mich einfach entführt.

Ich hatte keinen Hunger. Das gehört dazu. Das kommt vor. Immer wieder. Nicht so oft, wenn alles normal ist. Nicht über Wochen, wenn alles normal ist. Was sollte das heißen und woher kam die Zigarette in meiner Hand? Warum roch sie nach Heu?
Und wieso lachte ich am Telefon?
Wir hatten also einen getroffen, mit dem man Französisch reden konnte. Wir sprachen Französisch. Das tat gut, wir taten uns schwer. Er machte es uns leicht. Plötzlich war die Stadt nicht mehr grau. Das hab ich ihm übel genommen. Es war nicht so leicht. Denn nichts war mehr leicht, als ich am nächsten Morgen erwachte.
Der Arzt sagte, ohlala, très vite. Vous êtes excitées ? Nein, war ich nicht. Nur die Stadt sollte wieder grau sein und sollte endlich wieder regnen. Damit ich nicht beginnen würde zu lügen.
Vielleicht hat der Riese mich dann irgendwo fallen gelassen. Jedenfalls fand ich mich wieder auf einer Straße, die nass war und auf der ich ausrutschte, wenn ich aufstehen wollte. Als ich endlich stand, hatte ich einen Kater und lachte mir die Haare vom Kopf. Mein Herz hatte sich beruhigt. Aber sonst ging die Welt vielleicht unter. Ich biss in ein Thunfischsandwich. Das schmeckte gut. Das war neu. Ich hörte Haydn statt Wagner und kämpfte vergeblich gegen Mozart. Mit Ironie und Abwertung. Mozart lachte dazu – ein bisschen hysterisch – und schrie exagéré, exagéré ! Da hab ich meine Lanze genommen, bin schlafen gegangen und hab ihn im Traum erstochen.
Am nächsten Morgen sang er die Ostermesse. Da war alles verloren.

Irgendwann kam der Moment. Man spielte Romantik und hatte keine Zeit dafür. Alles war perfekt. Nur dass die Worte nicht zu den Bewegungen passten. Irgendwer sang vielleicht italienisch. Aber ich hörte nur, wie pervers es klang.
Wir haben gegessen und roten Wein getrunken. Er lud mich zu einem Viertel ein und ich wehrte mich hysterisch. Ich war falsch und er war falsch und alles war Provokation.
Dass es ein Danach gab, hatte keinen Sinn. Ein paar Mal noch in Kultur gemacht. Ein paar Mal noch in die Klassik geflüchtet und über Kunst statt über das Leben geredet. Vier Jahreszeiten in drei Wochen. Das hält keine Natur aus.
Irgendwann sprach dann jemand über Liebe. Und ein anderer hat geantwortet.
Ich war gegen Romantik, weil sie mich krank machte. Er war gegen die Vernunft, die mein Leben war. Das Leben, das jetzt kaputt war.
Ich war wütend und glücklich, weil ich eine Entscheidung gekommen sah.

Tristan sah ich auch. Wie er vor Isolde Weißhand den Leich sang, der einst der Blonden galt. Ich fand ihn treu, als ich ihn kennen lernte. Ich fand, c’était comme ça la vie – dass Tristan dann starb, ist nicht erwiesen.
Die Geschichte wiederholt sich. Hamlet, Ophelia, ich und er und Tristan mit den beiden Isolden. Wohin soll das gehen? Tod der Weltliteratur! Wenn sie Menschenleben ihren Gang aufzwingt. Ich hab das nicht gewollt. Ich habe nur davon geträumt.

Meine Entscheidungen waren nicht von großer Dauer in diesem Januar. Ich ging ins Konzert und ins Museum. Weil Kunst beruhigt. Das tut sie aber nur, wenn man darüber reden kann. Doch mir fehlten die Worte.
Ich ging ins Kino, weil da die Worte waren. Ich sprach über Aragorn und Adam Sandler, über die Kammer des Schreckens und über Scooby Doo, wenn nichts anderes lief. Ich fühlte mich hilflos, weil er mitredete.
Ich trank viele Gläser roten Weins und der Rausch von einer Schachtel Zigaretten war nicht messbar in Pulsschlägen bei Nacht.
Ich war nicht verliebt, nur verunsichert. Das reichte leider.

Tizian mag ich mich. Perfektion hin und her, er kotzt mich an. Ebene Gesichter, perfekte Proportionen. Ich hasse Milla Jovovich in Unterwäsche. Und staubfreies Laminat. Und bordeauxfarbene Seidendecken. Ich mag seinen Freund. Er schaut mich an – ohne Übertreibung und ohne Schalk im Mundwinkel.
Ich mag keine Katzen. Das wird sich nicht ändern. Moi, je préfère les chiens. Ils sont plus fidèles. Fidel Castro. Und meine Witze mag er auch dann, wenn ich sie nicht verstehe.

Kein ce soir. Kein morgen abend vielleicht. Sinon – je ne sais pas.
Ich hatte meine Sorgen zu den Akten gelegt, doch mit den Worten kamen sie zurück. Mit den Worten beginnt das Übel.
Mit Worten muss es enden. Vielleicht auch niemals. Vielleicht ist das, was ich übel nenne und was momentan ein meiner Art fremdes Lächeln lächelt, meine Hölle auf Erden und der Preis für das verlorene Paradies. Das genau dort verloren ging, wo das alles seinen vorausgesehenen Anfang nahm. Es war das alte Lied in neuen Noten.

(Nantes, 6.02.03)

Paradis tout perdu

Und dann waren die Worte da. Einen stillen Abend lang waren sie da und ich zog sie aus dem Rinnsal, das von meinem Ausflug mit dem Riesen geblieben war. Ich hatte Angst, aber die hat man ja immer.
Dann nahm Mozart, der nicht gestorben war, weil die Götter, die ich gerufen hatte, ihn nicht genug liebten, meine Hand und las ihr das Leben. Heirat und Kinder und Gänsehaut und der laute Vorwurf, dass es so einfach nicht sei. - Wie auch immer, Mozart ging zurück und trat Haydn in den Hintern. Und bestellte sich einen Gin
Ananas. Martini Cocktail gab es nicht.

Kaum dass ich die ersten Worte gesprochen hatte, wusste ich – laisse tomber, der Mann ist krank. War er nicht. Nur eitel und selbstverliebt und hatte zu viele Jahre darauf verwandt, sein Bild von sich zu entwerfen. Jetzt war es fertig – in der Pose des Römers, des Renaissance-Fürsten, des sterbenden Poeten. Und da hat man so seine Verpflichtungen, hat man so seine Klasse.
Wir sprachen französisch und Klartext. Ich fragte, ob er schwul sei und er, wie ich darauf komme. Ich sagte nicht, was ich wirklich dachte, sondern erklärte die Beleidigung mit einem Kompliment. Er lachte und sagte „bien sûr que non“. Nichts war bien sûr und eigentlich interessierte es mich auch nicht mehr.

Der Morgenstern und der Abendstern haben beide das gleiche Problem. Ich hasse sie und werde sie immer lieben. Wie Orion einst und immer. Bald ist der Himmel bevölkert mit persönlichen Gefährten zweisamer Hoffnungen und ich kann nicht erwarten, dass ein Platz unter ihnen mir bleibt. Essen Götter Pflaumenmus? Gibt ein Wurm Milch, die seine Jungen nährt? Was macht Orion im Sommer?

Alles war gut so. Und seine Hand in meiner und seine Lippen an meinem Hals. Warum taten die Worte nicht, was sie sollten? Warum liessen sie sich jetzt nicht zurückhalten? Warum redete ich jetzt? Warum die Wahrheit und warum auf Französisch?

„Auf einem Sofa in einem Land vor aller Zeit saß ein Mann und hielt eine Frau auf seinen Knien. Er sah sie an und sie sah ihn an und ein Kuss war noch das Geringste. Da gab es ein Leid, das sie nur leise mit Worten berührten. Er strich ihr das Haar aus der Stirn und roch ihre Haut an der Hüfte. Sie atmete schwerer, als zu hören war. Sie wollte fort und war doch lange schon dort. Sie sagte nein und meinte ja. Er hat das richtig verstanden.
Er zeigte ihr den Weg vom Sofa, die Treppe hinauf, dorthin, wo auch Römer die Tunika ablegen. Und wenn Tulpen aus ihren Blicken wuchsen, hatte sie keine Angst mehr. Tulpen und Schwalben – es war Frühling und die Luft roch nach Norden.
Er zeigte ihr die Welt, die sie sieben Jahre, sieben lange Jahre nicht kennen wollte und wenn sie auch an einen anderen dachte, dann war es doch Liebe, die den einen mit dem anderen Körper und Augen tauschen ließ.
Was sie fühlte, war still und floss wie ein ruhiger Fluss von einem Leben ins nächste. Was sie fühlte, war Glück – trotz aller Hilflosigkeit in seinen Armen. Er nahm ihre Hände und führte sie in eine Welt, die sie liebte, weil sie sie nicht verstand.
Sie liebte nicht zum ersten Mal, aber fast schien es so. Ein Zeichen an seiner linken Schulter allein sprach von einer Vergangenheit. Ansonsten aber war alles nur jetzt. Nichts war eilig und nichts war gewaltig. Alles war still in ihr. Nur der Zeiger der Uhr machte Klack in ihrem Kopf in jeder Sekunde, da sie sein Herz an ihrer Brust hörte.“

Der Riese war nicht tot und nicht weit genug fort. Er hat den Verrat gerochen und kam nun ihn zu rächen. Er war es nicht, der anrief, bevor der Mann, der nicht mein Freund sein konnte, ging, aber er hätte es sein können. Er kam. Er ging. Und er nahm alles mit, was ich hoffen konnte.
Le lendemain – der Tag war lang und wirklich sonnig und kein Regentropfen kündigte den Abend an – war alles nicht mehr wahr. Ein Traum, ein verlorenes Paradies und ich hatte Hunger. Irgendwer spielte November rain und kam mir sinnträchtig vor. (Es war Februar und zwar der Achte.) Aber der Sinn war verschwommen, denn ich wollte nur schlafen.
In welche Richtung wir gingen, hat dann er entschieden. Ich hatte die Wahl zwischen MachdieAugenzuundsagkeinWort und Lassnichtzudassersogeht. Ich schloss die Augen und hielt ihn still fest. Ich wählte die steinige Mitte. Den Weg, der hundertmal betreten war.

Wärme ist trügerisch in der Nacht. Wenn der Schweiß getrocknet ist und wie Tau auf der Haut kühlt, ist nichts mehr gut und nichts mehr wahr.

Und Humbert Humbert trank seinen Gin Ananas. Aber mein Name ist nicht Dolores und ich habe keine Kindheit zu verlieren. Nur eine Vergangenheit.
Der Steinbock trug Tristan fort, nicht ohne ihm den Gürtel anzulegen, der ihm die Treue sicherte. Dann wieherte er und ritt gen Osten. Dort sah er die Morgenröte und baute ihr ein Haus. Jetzt sitzt er da in einer Bibliothek in Terracotta und lernt Violine spielen. Er flüstert einen Namen und es klingt wie Amélie.
Ich will nicht weinen. Der Gürtel presst mir die Rippen. Aber mein Name ist nicht Amélie.

Was kann ich tun, um den Schweiß und seine Küsse von meiner Hüfte zu waschen? Und die Schuld mit ihnen.
Wie viel Glück passt durch eine Gürtelschnalle? Was haben sich Morgen- und Abendstern zu sagen? Und wie lange lebt ein Genie?

Dann hab ich gesungen. Das alte Lied in neuen Noten.
Es war ein sonniger Tag. Nein, war es nicht. Aber ist man denn sicher, dass nicht alles so, genauso und vielleicht auch sonnig sein sollte? Denn wie viel Lieder hat die Welt? Varianten zählen nicht. Es ist nur ein Leben und jedem sein Paradies. Meines ist verloren, ganz verloren. Und wer immer es kennt, er töte den Riesen, der mir den Eingang verwehrt. Wer immer es kennt, er spreche mir nicht von den Sternen, die immer lügen und er lasse die Hand von meiner Hüfte, wenn er dort nicht Halt findet. Ein Gürtel und der Tau auf meiner Haut ist, was bleibt. Exagéré.

(Nantes, 7.03.03)

Paradis Perdu

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