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Anna ändert ihr Leben
26 mars 2009

Anna, Siegmund Jähn und eine alte Heimat.

Anna erinnert sich. In einem Zug irgendwo zwischen Berlin und Paris las Anna eine Zeitung und flog auf ihr nach gestern, vorgestern und zwanzig Jahre weiter – in eine Heimat, die heute Geschichte ist und vor allem in Form von Schlagzeilen erinnert wird: „Zwanzig Jahre Mauerfall – Erste Breschen im Eisernen Vorhang, „Zwanzig Jahre Freiheit...“
Zwanzig Jahre.
Ist das jetzt schon her. Kaum zu glauben. Sie würde lügen, wenn sie sagen würde, dass sie sich genau an alles erinnere. Tut sie nicht. Sie erinnert sich nicht an den 9. November 1989. Erinnert sich nicht, schon an diesem Abend im Fernsehen gesehen zu haben, wie Günter Schabowski in jener denkwürdigen Pressekonferenz, verwirrt auf einen Zettel starrend, zufällig die Mauer öffnete. Erinnert sich nur vage an Montagsdemos, an denen ihre Eltern nicht teilgenommen haben. Oder doch? Nein, sie erinnert sich nicht. Nicht daran.
Und doch an so viel Anderes: an die Fahnenappelle, die sie als Freundschaftsratsvorsitzende ihrer Schule leitete: „Für Frieden und Sozialismus – seid bereit!“, schrie sie, kaum ans Mikro reichend, aber stolz wie Bolle, „Bolle und der Friedensfahrer“ . Und es schallte, wenig begeistert, aber es schallte zurück: „“Immer bereit!“. Hundert Hände, die sich gleichzeitig zum Pioniergruß hoben. Ein Gruß, den Freunde – vor allem natürlich Freunde aus dem Westen – heute harmlos lachend mit dem Hitlergruss vergleichen. Es tut ihr leid, sie kann noch immer nicht darüber lachen.
Und sie erinnert sich auch an Aktionen von Timurhilfe in ihrer Strasse:
„Guten Tag, Frau Müller, hätten Sie vielleicht Altstoffe. Wir bringen sie zur SERO-Sammelstelle.“
„Können wir vielleicht für Sie einkaufen gehen, Frau Meier?“
Das alles mit dem besten Gewissen der Welt und einer Unschuld, die uns ehemaligen Timurhelfern, Fussstapfentretern des großen Jugendhelden von Arkadi Gaidar, uns heute Dreißigjährigen, Ex-Ossis, den großen Kindern aus dem Niemandsland, das damals einen Namen hatte und heute nur noch Osten heißt - mit einer Unschuld also, die uns heute beinahe peinlich ist. Diese Unschuld ist irgendwo liegen geblieben, möchte Anna denken und denkt es so verzweifelt, dass in ihr der Verdacht aufkommt, dass es sie so vielleicht nie gegeben hat.
Daran erinnert Anna sich.
Und auch an den Thrill, wenn der Lastwagen mit der Obst- und Gemüselieferung vor dem Laden gegenüber hielt und sie vom Fenster aus als erste sah, dass es Orangen gab oder Bananen oder Mandarinen. Und wie sie lief und die erste war unten – und wie stolz sie war, als sie wieder hoch zu Mutti kam mit einem Netz voller Orangen. Von denen Nachbars keine mehr abbekommen hatten. Inseln von Kapitalismus mitten im Sozialismus, Darwin war ein Pionier und umgekehrt.

Diese Erinnerungen – auch die Jugendfestspiele und Spartakiaden, an Ferienlager und Pionierabende, an Mathematikolympiaden und Pioniersingelager, an Soljanka und die Weltzeituhr in Berlin – kommen zurück in kurzen Flashbacks, die sich langsam rosarot färben und immer öfter den Geschichten in einem alten Märchenbuch ähneln - und vergilben. Und vielleicht wären sie das auch: vergilbt, abhanden gekommen und untergegangen, wenn nicht eines Tages dieser Film gekommen wäre, der so viele andere ähnliche nach sich zog. Natürlich meint Anna „Good Bye Lenin“. Good Bye Lenin hat ihre Erinnerung gerettet. Hat die Flashbacks mit einem Gefühl gefüllt, ohne das es sie sicher nicht mehr gäbe.
In diesem Film, ganz am Ende gibt es eine Szene, die einen Jungpionier-Ossi der 80er Jahre, einen Ex-Timurtruppler zu Tränen rührt. Und das hat nichts mit Liebe und nichts mit dem voraussehbaren Tod der Mutter Kerner zu tun. Das kommt alles nur von Siegmund Jähn. Alex Kerner, größter Fan dieses ostdeutschen Helden schlechthin, dem ersten Deutschen im Weltall, Alex Kerner, der auch Anna heißen könnte, ernennt den vermeintlichen Siegmund Jähn zum Staatsratsvorsitzenden einer DDR, die die Wende überleben konnte ( - könnte? - ) und lässt ihn eine Antrittsrede halten, die jeder, jeder von uns Timurtrupplern selbst hätte schreiben wollen. Und so saß Anna im Kino und hätte so gern geheult. Hätte so gerne endlich geheult um dieses Land, das die DDR HÄTTE SEIN KÖNNEN. Und nie war. All die vielen Flashbacks, Orangen im Einkaufsnetz, Pioniergruss im hundertfachen Echo, Frau MeierMüller und die SERO-Güte - fanden sich in einer monumentalen Flashback-Soljanka zusammen und bauten endlich, endlich Erinnerung. Was sie dazu gebraucht hatten, war vielleicht nur Siegmund Jähn und seine ganz offizielle Breitband-Erlaubnis, endlich etwas Gutes fühlen zu dürfen, sich nicht mehr kompromittieren zu müssen durch eine Nostalgie, deren Basis sich als historisch falsch entpuppt hatte. Anna heulte also.
Sie hatte wieder eine Heimat.

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  • Anna sieht Filme und Anna fährt weg und macht Fotos rund um ihr neues Leben, das jetzt nämlich anfängt und mindestens bis dreissig dauert. Und was bis dahin so passiert, das gibts dann hier.
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